KVNO aktuell Letzte Änderung: 09.11.2023 00:00 Uhr Lesezeit: 3 Minuten

Praxenkollaps verhindern: „Wir befürchten, dass diese Politik Menschenleben gefährdet“

Nur reden hilft nicht mehr, es muss endlich gehandelt werden – so denkt derzeit das Gros der Niedergelassenen. Dass sie dieser Aufgabe gewachsen ist, beweist die Spitze der

KVNO-Vertreterversammlung (VV) zurzeit eindrucksvoll. Gemeinsam mit seinem Stellvertreter Dr. med. Manfred Weisweiler hat der Vorsitzende Dr. med. Jens Wasserberg aus der VV heraus ein Aktionsbündnis gegründet. Die Initiative gegen den Praxenkollaps hat mittlerweile mehr als 30 ärztliche und psychotherapeutische Berufsverbände und Versorgergruppen im Rheinland vereint, um gemeinsam gegen die drohende Unterversorgung im ambulanten Bereich mobil zu machen. Im Interview erklären sie, warum Karl Lauterbach zurücktreten muss und warum die Politik endlich mehr auf die Expertise der Niedergelassenen setzen sollte.

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© Malinka | KVNO
Dr. med. Jens Wasserberg

Herr Dr. Wasserberg, Herr Dr. Weisweiler, es ist schon mehr als ein deutlicher Ruck, der derzeit nicht nur unter den Niedergelassenen, sondern unter den Akteuren des gesamten ambulanten Systems zu spüren ist. Es ist eindeutig die rote Karte in Richtung Politik. Was hat das Fass zum Überlaufen gebracht?
Manfred Weisweiler: Wir fordern jetzt seit 20 Jahren Unterstützung! Die Politikerinnen und Politiker hingegen träumen immer noch von unausgegorenen radikalen Veränderungen. Damit muss Schluss sein! Sie sollten endlich in den Austausch mit denen gehen, die etwas von ambulanter Gesundheitsversorgung verstehen: mit uns, den KVen. Wir haben die Expertise und die Antworten darauf, was wir Niedergelassene brauchen, um die Alten und die körperlich und psychisch Kranken – deren Zahl gerade explodiert – zu versorgen. Es kann nicht sein, dass wir weiterhin gezwungen werden, noch zusätzlich unnötige Arbeit zu erledigen. Wir befürchten, dass diese Politik Menschenleben kosten wird. Deshalb kann ich nur appellieren: Treten Sie zurück, Herr Prof. Lauterbach! Sie sind eher das Problem, nicht die Lösung.

Jens Wasserberg: Fakt ist: Das System kann nur gegen die Wand fahren, wenn auch künftig praxisfern über die Prozesse in der ambulanten medizinischen Versorgung entschieden wird. Wir fordern endlich angemessenen Respekt vor der Leistung, die in der ambulanten Versorgung tagtäglich trotz zunehmend widriger Umstände erbracht wird. Verwaltungsaufgaben werden immer stärker in die Praxen verlagert, demografiebedingt steigt die Nachfrage an ambulanten Leistungen und die Überalterung der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft tut ihr Übriges, um die Versorgung auf dem heutigen Niveau zukünftig unmöglich zu machen. Deshalb müssen schnellstmöglich Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dieses weltweit einmalige ambulante Gesundheitssystem aufrechterhalten können.

 

Dr. med. Manfred Weisweiler
© Malinka | KVNO
Dr. med. Manfred Weisweiler

Welche Rahmenbedingungen braucht es dazu?
Wasserberg: Dazu gehören zwingend praxistaugliche Digitalisierungsprojekte, die Arbeitsabläufe beschleunigen und keine sinnfreie Zusatzarbeit bedeuten, aber auch eine spürbare Reduktion der Bürokratie, indem unter anderem Kassenaufgaben wieder an die Krankenkassen zurückverlagert werden. Die Budgetierung als versteckte Leistungsbegrenzung und Honorardiebstahl für bereits erbrachte Leistungen gehören abgeschafft. Es dürfen keine Regresse mehr drohen bei notwendigen medizinischen Verordnungen. Außerdem bedarf es dringend einer Finanzierung der Aus- und Weiterbildung sowie einer Förderung der kostengünstigen und von der Bevölkerung erwünschten Ambulantisierung. Bleibt schließlich noch der Fachkräftemangel, der den Kolleginnen und Kollegen immer mehr zusetzt. Unter den aktuellen finanziellen Bedingungen ist der Wettbewerb mit dem stationären Sektor um qualifiziertes medizinisches Personal für die Praxen jedoch aussichtslos und kaum zu gewinnen.

Weisweiler: Es muss endlich in den Köpfen der Politikerinnen und Politiker ankommen, dass Gesundheitsversorgung eine Dienstleistung durch hochqualifizierte Teams ist. Darum ist sie teuer und lässt sich nicht, wie eine Industrieproduktion, beliebig rationalisieren. Im Moment werden unsere Patientinnen und Patienten sowie die Menschen, die sie versorgen, als Inflationsbremse missbraucht. Die Schwächsten sollen die Starken retten. Das ist unethisch. Kaputt gesparte Praxen werden definitiv verschwinden und über Generationen nicht wiederbelebt werden können.

Sie haben mit der Gründung des Aktionsbündnisses „Praxenkollaps – Nordrhein“ eine starke Mannschaft aufgestellt, um sich gegen die drohende Unterversorgung in der ambulanten Versorgung zu stemmen. Wie kann das gelingen?
Wasserberg: Terminnot, fehlende Medikamente und schließende Praxen sind schon heute ganz konkrete Folgen des politischen Missmanagements der vergangenen Jahrzehnte. Das wird für Patientinnen und Patienten auch immer stärker sichtbar. Für uns gilt es jetzt, den bevorstehenden Kollaps der Versorgung in das öffentliche Bewusstsein zu bringen und der Bevölkerung klarzumachen: Sie muss sich für den Erhalt dieser ambulanten Daseinsfürsorge selbst einsetzen, wenn sie sich auch künftig eine Versorgung auf diesem hohen Niveau wünscht.

Weisweiler: Wir Niedergelassenen haben immer guten Willen gezeigt, sind über lange Zeit über unsere Belastungsgrenzen gegangen – immer unter der Prämisse, unsere Patientinnen und Patienten bestmöglich zu versorgen. Und wir haben stets vehement auf die Probleme in der ambulanten Versorgung hingewiesen – es hat wenig bis keine Wirkung gezeigt. Jetzt brauchen wir einfach die Rückendeckung der Bevölkerung. Denn die Patientinnen und Patienten sind Wählerinnen und Wähler. Darauf müssen wir jetzt alles setzen! Denn nur, wenn alle an einem Strang ziehen, haben wir die Chance, dass die Politikerinnen und Politiker gezwungen sind, zu handeln!

  • Das Interview führte Jana Meyer.