KVNO aktuell Letzte Änderung: 17.07.2024 11:30 Uhr Lesezeit: 5 Minuten

eHealth: Reformen gelingen nur, wenn alle Kräfte zusammenwirken

Es braucht eine digitale Transformation, um künftigen Herausforderungen im ambulanten Gesundheitssektor adäquat begegnen zu können – und das schnell.

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Zwar zahlen die jüngsten Gesetzesentwürfe einiges auf dieses Konto ein, doch hagelt es von vielen Seiten zu Recht heftige Kritik – auch seitens der Vertragsärzteschaft. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) stellt sich diesen gesetzlichen Vorgaben, indem sie Digitalisierung - im Sinne ihrer Mitglieder - mitgestalten wird. Wir geben einen Überblick zu relevanten Themen sowie (Projekt-)Ideen aus dem Bereich eHealth und berichten vom ersten „Runden Tisch zur Vernetzung der Akut- und Notfallversorgung“ in Düsseldorf, initiiert von der KVNO.

Was nützt die größte Bereitschaft zur Digitalisierung, wenn immer wieder die Technik streikt? Wen wundert es, dass Niedergelassene auf die Barrikaden gehen, wenn der Gesetzgeber sie zur Nutzung digitaler Anwendungen zwingt, die eher Mehrarbeit verursachen anstatt zu entlasten? Oft wirkt es, als wolle die Politik die dringend nötige Digitalisierung im Gesundheitswesen nun auf Biegen und Brechen durchdrücken. „Das kann nicht funktionieren, weil weder den Anbietenden noch den Anwendenden ausreichend Zeit für die Umstellung gewährt wird. Das führt zu Fehleranfälligkeit, schlechter Leistung der Software sowie zu Frustration und Vertrauensverlust bei unseren Niedergelassenen“, sagt Dr. med. Thorsten Hagemann, neuer Leiter der KVNO-Stabsstelle eHealth.

Zudem sollten die operativen Lösungen nachhaltig und ganzheitlich gedacht werden. „Gelingen kann das jedoch nur im Schulterschluss aller Akteure im Versorgungssystem“, betont Hagemann. Das gilt insbesondere für die Zukunft der Akut- und Notfallversorgung. Unter anderem sind das Gesundheits-Digitalagenturgesetz (GDAG), das Gesundheitsdatennutzungs-Gesetz (GDNG) und das Notfallgesetz die Regelungsbereiche, die für den eHealth-Experten und sein Team aktuell besonders relevant sind. Eine Notfallreform ohne Digitalisierung ist für ihn nicht denkbar. Für Hagemann geht es in erster Linie darum, eine bessere und bedarfsgerechtere Patientenpfadoptimierung zu erreichen, die in logischer Konsequenz auch mit einer verbesserten Kooperation von vertragsärztlichem Notdienst, den Notaufnahmen der Kliniken sowie des Rettungsdienstes einhergeht. „Der Referentenentwurf greift zwar mitunter die von der KV Nordrhein geforderte stärkere digitale Vernetzung aller Beteiligten auf, es bleibt jedoch völlig unklar, wie das konkret ausgestaltet und finanziert werden soll“, erläutert er, „dem stellen wir uns aber jetzt.“ Die telemedizinische Vernetzung wird dabei als ein wichtiges Zahnrad im System den Erfolg der Notfallreform unterstützen. „Denn der Nutzen digitaler Lösungen schafft perspektivisch eine bessere Patientensteuerung und damit ebenso – wenn auch sicher nicht allein - die dringend notwendige Entlastung der Vertragsärztinnen und Vertragsärzte“, konstatiert der Leiter der KVNO-Stabsstelle eHealth.

Gutachter-Plädoyer für bessere Info-Flüsse

Das spiegelt auch ein von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in Auftrag gegebenes Gutachten wider, erstellt vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf und dem Göttinger Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen. Es vergleicht die Organisation des ärztlichen Bereitschaftsdienstes in Dänemark, England und den Niederlanden. Kernelement in allen drei Ländern: ein kontinuierlicher Informationsfluss zwischen den Akteuren mit medienbruchfreier Fallübergabe. Patientinnen und Patienten werden über eine standardisierte medizinische Ersteinschätzung der angemessenen Versorgungsebene zugeordnet, die angelegte Notfallakte kann von allen weiteren Akteuren eingesehen werden.

Diese sogenannte Hotline-first-Strategie stellt der Patientensteuerung die konsequente Ersteinschätzung voran. Dies empfehlen die Forscherinnen und Forscher auch für Deutschland. Erste Ansätze gibt es bereits. Die KV Nordrhein setzt das vom Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung angebotene SmED-Verfahren zur Prüfung der Dringlichkeit einer Behandlung bei der 116 117 ein, der bundesweiten Service-Rufnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes. Allerdings mangelt es laut Analyse der Fachleute an der unverzichtbaren system- und medienbruchfreien Fallübergabe. Die Folgen: höhere Kosten, Fehlallokationen und im schlimmsten Fall sogar Gefährdung der Patientensicherheit. Die 112, die KV-Notdienstpraxen und die 116 117 müssen also dringend technisch und fachlich vernetzt werden. Der Referentenentwurf zur Notfallreform fordert das KV-System, denn das Bundesgesundheitsministerium (BMG) setzt darin weiterhin auf die Lotsenfunktion der 116 117, die innerhalb des vertragsärztlichen Systems zum digitalen Knotenpunkt ausgebaut werden soll.

Stethoskop (Symbolbild)
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KVNO-Initiative für Runden Tisch

Worin sieht KVNO-eHealth-Chef Thorsten Hagemann die größte Herausforderung? „Wir müssen den Blick aufs große und vernetzte Ganze richten“, sagt er. Es gebe viele gute Visionen und konkrete Lösungsvorschläge, um Patientenversorgung zukunftssicher neuzugestalten, meint er. Jedoch müsse das gemeinschaftlich vorangetrieben werden. Das erfordere ein Aufbrechen der Denk- und Projektsilos, ebenso wie den fachlichen Diskurs mit allen Akteuren der Akut- und Notfallversorgung. „Es gilt nicht nur, die Schnittstellen zu kennen, die wir bei der Triage bedienen müssen. Für eine nachhaltige Verbesserung der Akut- und Notfallversorgung im Sinne unserer Mitglieder sowie der Patientinnen und Patienten und einen ressourcengerechten Einsatz ist eine an medizinischen Kriterien orientierte Lenkung der Patientinnen und Patienten in die für sie geeignete Versorgungsstruktur eine unerlässliche Bedingung“, so Hagemann weiter. Alle Versorgenden müssen bei der Ersteinschätzung die gleichen Standards ansetzen. Die KVNO-Vertreterversammlung hatte Anfang Juni bereits den Weg für die digitale Transformation im Notdienst freigemacht und dem entsprechenden Antrag des Vorstands mit breiter Mehrheit zugestimmt (siehe S. 10).

„Wir werden die Akut- und Notfallversorgung aber nicht im Alleingang und ohne unsere Partner reformieren können, sondern nur gemeinsam“, ist Hagemann überzeugt. Deshalb freut er sich darüber, dass Anfang Juli auf Initiative der KV Nordrhein die KV Westfalen-Lippe und das NRW-Gesundheitsministerium (MAGS) sowie alle an der Akut- und Notfallversorgung beteiligten Player am Runden Tisch im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf zusammengekommen waren, um über Strategien und Initiativen zur Vernetzung zu sprechen.

Mehr Verständnis durch Perspektivwechsel

„Bei diesem Kick-off-Treffen ging es nicht darum, unbedingt sofort Lösungen präsentieren zu können, sondern in erster Linie einmal darauf zu schauen, wo in den verschiedenen Leistungsbereichen der Akut- und Notfallversorgung der Schuh drückt und welche unterschiedlichen Bedarfe und Wünsche es gibt“, so der Leiter der Stabsstelle eHealth, der den Runden Tisch moderierte. Im Vordergrund stand, die Perspektiven der jeweiligen Partner kennenzulernen, um dadurch ein Gesamtbild der Situation zu erhalten.

Diese ist nach Ansicht der beiden KVen unter anderem dadurch erschwert, dass ihnen nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen, sowohl in personeller als auch in finanzieller Hinsicht. Es sei daher für sie ein „Schmerzpunkt“, dass der Ressourcenknappheit Forderungen nach einem Rund-um-die-Uhr-Bereitschaftsdienst und einem Trend zur Verstetigung von Parallelstrukturen zur Regelversorgung gegenüberstünden. Darüber hinaus belasteten ungesteuerte Patientenbewegungen die Effizienz des Systems, genauso wie das Nebeneinander uneinheitlicher IT-Systeme und zu viel Bürokratie. Dem stationären Sektor, vertreten durch Führungskräfte der Notaufnahmen aus fünf Kliniken, macht die wachsende Zahl von Patientinnen und Patienten Sorgen, die die Notaufnahmen auch mit Bagatellerkrankungen aufsuchen. Das seien mitunter auch Menschen, die wüssten, dass sie in der Notaufnahme falsch sind, im ambulanten Sektor aber keinen Behandlungstermin bekommen würden.

Auch die Leiter von sieben Rettungsleitstellen aus NRW berichteten von missbräuchlichen Inanspruchnahmen. Möglich werde das durch falsche Rahmenbedingungen. „Der Rettungsdienst wird nur für den Transport der Patientinnen und Patienten bezahlt. Wenn wir nicht transportieren, bekommen wir kein Geld für unsere Leistung“, stellte Hanjo Groetschel klar, der als Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes im Kreis Borken aktiv ist. Ursache dafür, dass die 112 angerufen werde, sei häufig aber auch Hilflosigkeit im System und dass die Patienten nicht wüssten, dass sie zum Beispiel auch die Nummer des ambulanten Notdienstes hätten anrufen können.

Wo hakt es bei den Kostenträgern? Die zwölf Vertreterinnen und Vertreter der Krankenkassen und –verbände, die an dem Treffen teilnahmen, benannten unter anderem die Vielfältigkeit und damit das undurchsichtige und ressourcenintensive Versorgungssystem, das mit seinen Schnittstellen zu Zeitverzug bei der Behandlung führen könne. Rückmeldungen aus der Patientenschaft verwiesen außerdem bisweilen auf Mängel bei den Erstkontakten, wenn zum Beispiel von der 116 117 ein Rückruf avisiert werde, dann aber nicht erfolge.

Für die Teilnehmenden des MAGS ist das verbreitete „Sektorendenken“ ein Grund dafür, dass es bei der Akut- und Notfallversorgung noch nicht ganz rund läuft. Das Ministerium nehme sich dabei nicht aus, denn die interne Abteilungsstruktur spiegele dieses Denken ebenso wider. Auch Schuldzuweisungen brächten nicht weiter, sagte der für die vertragsärztliche und sektorenübergreifende Versorgung zuständige Referatsleiter im MAGS, Felix Lüken.

Auf dem Weg zur gemeinsamen Vision: Im Juli kamen die Partner der Akut- und Notfallversorgung bei der KVNO in Düsseldorf zusammen, um digitale Transformation gemeinsam zu denken und Lösungsansätze zu diskutieren.
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Auf dem Weg zur gemeinsamen Vision: Im Juli kamen die Partner der Akut- und Notfallversorgung bei der KVNO in Düsseldorf zusammen, um digitale Transformation gemeinsam zu denken und Lösungsansätze zu diskutieren.

Digitalisierung als ein Weg zum Ziel

Für ihn ist der Runde Tisch deshalb vor allem ein guter Anfang, weil so ein gemeinsames Problemverständnis entstehen könne. „Ich finde es total wichtig, dass wir endlich miteinander ins Gespräch kommen und nicht so sehr übereinander reden und dass wir auf dieser Basis dann gemeinsam schauen, wo die Lösungen liegen können“, sagte Lüken.

In welche Richtung das gehen könnte, ließ sich bereits in den Wünschen der beteiligten Organisationen erahnen. Nach Meinung aller spielt Digitalisierung dabei eine große Rolle. Der Rettungsdienst visiert eine einheitliche Notfall-Nummer an, verbunden mit einer echten Vernetzung der Leistungserbringenden und einer klaren Selektion der Patientinnen und Patienten nach definierten Standards. Auch die Krankenhäuser sehen in einer „adäquaten Vorselektion“ einen Weg zur Problemlösung und wünschen sich außerdem einen medienbruchfreien Datenaustausch mit den Sektoren.

„Wir haben in der Akut- und Notfallversorgung jede Menge Druck auf dem Kessel“, fasst Thorsten Hagemann das erste Treffen der Akteure in diesem Bereich zusammen. „Ich freue mich deshalb, dass wir alle Beteiligten an einem Tisch zusammenbringen konnten, um gemeinsam eine Vision zu entwickeln.“ An ihrer Umsetzung soll dann beim nächsten Treffen am 2. Oktober 2025 bei der KV Westfalen-Lippe in Dortmund weitergearbeitet werden. Geplant ist, in weiteren Begegnungen konkret an den Prozessen der Patientensteuerung und Fragen der technischen Umsetzung zu arbeiten.

Ein weiteres heißes Eisen, das es zu schmieden gilt, ist die elektronische Patientenakte (ePA) für alle. Ab Anfang 2025 soll für jede und jeden gesetzlich Versicherten eine solche Akte angelegt werden. Wer das nicht will, muss aktiv widersprechen – so geregelt im Digital-Gesetz. Rückblickend auf den Start des E-Rezeptes Anfang des Jahres, der aus Sicht der Vertragsärzteschaft durchaus als holprig zu bezeichnen ist, bereitet dieses Vorhaben den Niedergelassenen nicht ganz unberechtigt Sorgen. „Den befürchteten Big Bang zum 15. Januar wird es aber so nicht geben“, beruhigt Thorsten Hagemann. Die gematik plane ein Rollout über drei Phasen mit dem Start in Feldtestregionen, zudem füllten sich die Akten aus den Behandlungskontexten erst peu à peu. Des Weiteren sei in Abstimmung von KVen und KBV ein Akzeptanz-Kriterien-Katalog erarbeitet worden, adressiert an gematik und Softwarehersteller.

Anforderungen an ePA-Umsetzung

„Bei der ePA wird es anders als in der Vergangenheit laufen. Wir werden in Sachen Nutzerfreundlichkeit unser Feedback konkret an das Produktmanagement der gematik geben können. Denn die ePA darf die Praxen nicht vor weitere große Herausforderungen stellen“, unterstreicht der KVNO-eHealth-Chef. So sehen die Anforderungen an die Umsetzung der ePA im Praxisverwaltungssystem (PVS) unter anderem vor, dass der Zugriff auf die digitale Akte allein durch Stecken der eGK erfolgen muss und Dokumente in der elektronischen Akte anhand ihrer Metadaten sortier- und filterbar sein müssen (Ausführliche Informationen zur ePA-Einführung folgen weiterhin in den nächsten Ausgaben der KVNO aktuell.) „Außerdem werden die KVen gemeinsam mit der KBV alle rechtlichen und fachlichen Unklarheiten zur ePA sammeln und besprechen. Die daraus abgeleiteten Forderungen geben wir dann an gematik und BMG weiter“, erläutert Hagemann.

Was die Aufklärung der Patientinnen und Patienten zur elektronischen Patientenakte angeht, sehen sich die KVen nicht in der Verantwortung. Es sei die Aufgabe der Krankenkassen, ihre Versicherten aufzuklären. „Wir machen im konstruktiven Dialog mit den Kassen klar, dass die Patientenaufklärung aus den Praxen und dem Behandlungskontext herausgehalten werden muss“, macht er deutlich, „unsere Idee ist es, durch ein Zusammenwirken einen besseren Effekt zu erzielen.“

Zentrale Verantwortlichkeit

Ein weiterer aktueller Referentenentwurf im Bereich Digitalisierung befasst sich mit dem Umbau der gematik zur Digitalagentur, der mit dem GDAG vollzogen werden soll. Bisher lag die Aufgabe der gematik darin, Komponenten und Dienste rund um die Telematikinfrastruktur (TI) zuzulassen und zu spezifizieren. Als Digitalagentur soll sie künftig hoheitlich handeln dürfen, mehr Befugnisse haben und damit die zentrale Verantwortlichkeit für die Digitalisierung des Gesundheitswesens bekommen. Das bedeutet, sie dürfte dann auch Sanktionen verhängen und Aufträge zu Entwicklung und Betrieb für bestimmte Komponenten und Dienste der TI vergeben. Des Weiteren soll mit dem Gesundheits-Digitalagentur-Gesetz geregelt werden, dass alle Beteiligten bei Neuimplementierungen früher eingebunden werden, um die Anwendungen nutzerfreundlich zu gestalten. Innerhalb der Digitalagentur ist zudem das Kompetenzzentrum für Interoperabilität im Gesundheitswesen angesiedelt, das sicherstellen soll, dass informationstechnische Systeme im Gesundheitswesen nicht nur miteinander kommunizieren können, sondern auch in der Praxis nutzbar sind.

Nebenbei treibt das eHealth-Team um Thorsten Hagemann weiterhin eigene Projekte in der Umsetzung voran. Zum Herbst steht planerisch die Verstetigung der Videosprechstunde im kinderärztlichen Notdienst im Rheinland an. „Außerdem ist die telemedizinische Vernetzung in der Pflegeheimversorgung für uns ein wichtiges Thema, sowohl in der Regel- als auch in der Notfallversorgung“, stellt er klar. In Sachen digitale Transformation kommt also mächtig Bewegung auf. Nach Jahren des Stillstands ist das eine gute Nachricht. „Wichtig ist, dass wir als KV Nordrhein jetzt dort anpacken, wo wir anpacken können, und gemeinsam mit unseren Partnern in der Versorgung nicht nur Visionen entwickeln, sondern konkrete, umsetzbare Maßnahmen erarbeiten“, sagt der Leiter der eHealth-Stabsstelle. Mit der Initiierung des ersten Runden Tisches hat die KV Nordrhein den Anfang gemacht. Nun muss der Ausbau des Weges zum wirklichen Gemeinschaftsprojekt aller Akteure im Versorgungssystem avancieren.

  • Jana Meyer und Thomas Lillig